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«Wir fordern eine nationale Koordinationsstelle für freiwilliges Engagement»

Aktualisiert: 19. Nov. 2022

Thomas Hauser ist Geschäftsführer von benevol Schweiz, der nationalen Dachorganisation für freiwilliges Engagement. Er ist 47 Jahre alt, Familienvater und lebt in Schaffhausen. Im Gespräch gibt Thomas Hauser einen Einblick in seine Arbeit sowie die Entwicklung und das Potenzial der Freiwilligenarbeit in der Schweiz.



Thomas, wie bist du zu deiner heutigen Tätigkeit als Geschäftsführer von benevol Schweiz gekommen? Wie und wann bist du mit Freiwilligenarbeit in Kontakt gekommen? Auch bei mir war es wie bei vielen Jugendlichen: Mit einer Selbstverständlichkeit engagiert man sich für die Jugendriege oder die Pfadi, ohne das Gefühl zu haben, Freiwilligenarbeit zu leisten. Ab 2010 war ich als Mitveranstalter des Musikfestivals Stars in Town in Schaffhausen tätig und dabei auch für die mittlerweile über 500 freiwilligen Helferinnen und Helfer verantwortlich. Die enorme Kraft des freiwilligen Engagements überzeugte mich so, dass ich 2016 zu benevol wechselte und seit 2017 nun den Dachverband benevol Schweiz leite.

Es gibt viele Gründe für freiwilliges Engagement: Sinnhaftigkeit, Aufbau eines sozialen Netzwerks oder der Erwerb neuer Kompetenzen. Was hat dir persönlich freiwilliges Engagement zurückgegeben? Das wichtigste Element im freiwilligen Engagement ist für mich die Freude an der Tätigkeit. Man kann ausprobieren und Dinge machen, die im beruflichen Alltag nicht möglich wären. Es war mir gar nicht bewusst, dass ich mir dadurch Kompetenzen erwerbe, die auch im Beruf einen grossen Mehrwert darstellen. Ebenso unerwartet waren die gesellschaftliche Anerkennung und die vielen neuen Beziehungen, die Engagements mit sich bringen können.


Freiwilligenarbeit hat eine enorme Bedeutung in der Schweiz. Jede:r vierte engagiert sich freiwillig, jährlich werden rund 660 Mio. Stunden Freiwilligenarbeit geleistet. Wie hat sich die Freiwilligenarbeit in den vergangenen Jahren verändert?

Ein grosser Teil dieses Engagements findet im informellen Bereich statt, also mit Hilfestellungen an Mitmenschen ausserhalb der Kernfamilie. Diese Hilfsbereitschaft zeichnet unsere solidarische Gesellschaft aus. Wir müssen aber unsere Achtsamkeit gegenüber Mitmenschen und unsere Hilfsbereitschaft unbedingt weiter pflegen und entwickeln, um Trends wie Vereinsamung und Egozentrismus entgegenzuwirken. Einen zunehmend schweren Stand hat die formelle Freiwilligenarbeit, also der Einsatz für Organisationen wie zum Beispiel das SRK oder Pro Natura. Die Bereitschaft, sich über eine lange Frist zu einem Engagement zu verpflichten, nimmt ab. Das macht es besonders herausfordernd, beispielsweise Vorstandsmitglieder zu finden. Auch die starken Einschränkungen während der Corona-Zeit waren für das Engagement – vor allem auch von älteren Personen – nicht förderlich.


«Das wichtigste Element im freiwilligen Engagement ist für mich die Freude an der Tätigkeit. Man kann ausprobieren und Dinge machen, die im beruflichen Alltag nicht möglich wären.»

Welchen Einfluss hatte die Pandemie auf die Freiwilligenarbeit in der Schweiz insgesamt? Einerseits haben die Hilfsbereitschaft und die Solidarität insbesondere beim ersten Lockdown eine tragende Rolle gespielt, andererseits wurden zahlreiche Engagements in dieser Zeit gar nicht ausgeführt. Die Pandemie hat so ziemlich alles durcheinander gebracht. Das Bewusstsein der Relevanz von Freiwilligenarbeit war vorübergehend sehr gross, doch heute denkt kaum noch jemand daran. Ob und bis wann der Rückgang des formellen Engagements aufgrund von Corona kompensiert werden kann, steht in den Sternen.

Freiwilligenarbeit verändert sich mit der Individualisierung, Digitalisierung und demografischer Entwicklung. In welche Richtung wird sich freiwilliges Engagement verändern?

Für die Arbeitswelt wie auch für die Freiwilligenarbeit war es eine positive Auswirkung, dass man von überall und zu jederzeit produktiv arbeiten kann. Diese Möglichkeiten nutzen auch Freiwilligenorganisationen immer mehr. Denn das freiwillige Engagement ist immer auch ein Abbild unserer Gesellschaft und verändert sich wie die Arbeitswelt andauernd.

Die «neuen Freiwilligen» wollen sich immer mehr punktuell und projektbezogen engagieren, mitgestalten und mitentwickeln. Passen sich Organisationen und Vereine genügend schnell an diese Veränderung an? Wie können diese neuen Freiwilligen zukünftig rekrutiert werden? Eine Organisation kann und soll sich nicht gegen ihre Natur verbiegen, nur weil sie aktuellen Trends entsprechen will. Allerdings zeigen sich Organisationen, die agil und flexibel auf sich verändernde Bedürfnisse reagieren können, in allen Belangen erfolgreicher als solche mit verkrusteten Strukturen. Manchmal genügt aber auch nur etwas Kosmetik an der Oberfläche wie die Namensgebung: Während der «Gemischte Chor» kaum Zulauf findet, könnte der «Projektchor» voll im Trend sei.

«Wir müssen unsere Achtsamkeit gegenüber Mitmenschen und unsere Hilfsbereitschaft unbedingt weiter pflegen und entwickeln, um Trends wie Vereinsamung und Egozentrismus entgegenzuwirken.»

Wie wird sich die Beziehung zwischen Freiwilligenarbeit in der Zivilgesellschaft, Staat und Wirtschaft verändern? Wie wird dieses Zusammenspiel in Zukunft aussehen? Das freiwillige Engagement ist eine Leistung der Zivilgesellschaft. In der Wirtschaft erkennen immer mehr die enorme Bedeutung des freiwilligen Engagements für das Funktionieren des Staates sowie des Marktes und übernehmen Mitverantwortung, leisten Corporate Volunteering oder gehen direkt Missstände an. Während auf kommunaler und kantonaler Ebene die Förderung sehr unterschiedlich ausgestaltet ist, findet auf Bundesebene keinerlei Förderung oder auch Koordination statt. Das ist enorm schade.

Warum wird Freiwilligenarbeit auf nationaler Ebene nicht offiziell gefördert oder unterstützt? Was ist dafür noch nötig? Ein dringendes Bedürfnis sind gesetzliche Grundlagen und Definitionen. Freiwilliges Engagement ist auf Bundesebene juristisch nicht geregelt, was eine schweizweite Koordination fast unmöglich macht. Mit dem Manifest freiwillig engagiert fordern rund 35 nationale Organisationen, dass sich Bundesbern diesem Thema annimmt und beispielsweise eine nationale Koordinationsstelle für freiwilliges Engagement in der Bundesverwaltung implementiert (Anm. d. Red. Link zum Manifest). Das ist ein erster Schritt, soll die Freiwilligenarbeit auch künftig wichtige Aufgaben für Gesellschaft, Staat und Wirtschaft wahrnehmen.

Wo siehst du das grösste Potenzial, um freiwilliges Engagement noch weiter zu fördern? In welchen Bereichen kann benevol gezielt unterstützen und fördern? Das grösste Potenzial liegt wohl darin, diejenigen, die bisher nicht engagiert waren, vom Impact des Engagements zu überzeugen und zum Mitmachen zu bewegen. «Keiner muss, aber jeder soll können, wenn er will», das ist unsere Vision. Eine Studie in Deutschland zeigte, dass sich über die Hälfte der Befragten engagieren würde, wenn sie wüssten, wo sie gebraucht werden.

 



Über benevol Schweiz

benevol Schweiz ist die Dachorganisation der regionalen Fachstellen für freiwilliges Engagement in der Deutschschweiz und trägt eine Geschäftsstelle. Ihre Aufgaben sind die Vernetzung und die Kommunikation zwischen den regionalen Fach- und Vermittlungsstellen. Über 2000 Organisationen sind in der Schweiz über Mitgliedschaften mit benevol verbunden. Weitere Angebote sind die Vermittlungsplattform benevol-jobs.ch und der Nachweis für freiwilliges Engagement mit dem Dossier freiwillig engagiert. Für die Romandie ist Bénévolat Romandie als Dachorganisation zuständig, für das Tessin Volontariato Ticino.

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