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«Es braucht eine Revolution in der Schweizer Behindertenpolitik.»

Islam Alijaj hat mit seiner Wahl als Nationalrat historisches geschafft und will noch mehr: nämlich die Behindertengesetzgebung in der Schweiz verändern. Er hat mit der Zerebralparese eine gut sicht- und hörbare Behinderung. Gemeinsam mit zahlreichen Organisationen hat er dieses Jahr die Inklusionsinitiative lanciert.


Islam Alijaj lachend als neuer Nationalrat in Bern.

Islam Alijaj ist Secondo mit Wurzeln im Kosova und das neue Gesicht der Behinderten­bewegung. Seit über zehn Jahren engagiert er sich für Inklusion und ein selbstbestimmtes Leben für alle Menschen in der Schweiz. Er lebt mit seiner Frau Gjeva und seinen zwei Kindern, Sohn Bakir und Tochter Gejneta, in Zürich Albisrieden.


Islam Alijaj, zuallererst herzliche Gratulation zu Ihrer Wahl! Welche nächsten Schritte wollen Sie in Ihrer neuen Rolle als Nationalrat in den kommenden Monaten angehen? Ich möchte eine inklusive Schweiz. Mein Fokus liegt darauf, dass Menschen mit Behinderungen bessere Möglichkeiten im Arbeitsmarkt haben, ihre Wohnform frei wählen können und mehr Assistenz bekommen, damit sie selbstbestimmt am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Auch im Bildungssystem muss einiges passieren. Ich setze mich in der Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur WBK dafür ein, dass die Aus- und Weiterbildungen inklusiver werden. Auch die Invalidenversicherung IV will ich wieder ausbauen. Sie war eine unterstützende Hand für uns Menschen mit Behinderungen. Wegen der Sparmassnahmen ist sie zum Gegenteil geworden.


Der Dachverband Inclusion Handicap stellt fest: «Die von der UNO-BRK geforderte Inklusion wird auf allen Staatsebenen und in der Gesellschaft noch zu wenig gelebt». Dazu gehören die Barrierefreiheit im öffentlichen Raum und im Verkehr, Mitsprache in der Politik, Inklusion im Arbeitsbereich, Ausbau der Assistenzleistungen, kantonale und nationale Gleichstellungsgesetze. Was behindert Sie im Alltag am meisten?

Die Frage wäre hier eher, was mich im Alltag nicht behindert. Es fängt bereits beim öffentlichen Verkehr an, bei dem ich mich für Zugreisen mindestens eine Stunde vorher anmelden muss, um eine Einstiegshilfe zu erhalten. Dies nur, weil die SBB trotz 20-jähriger Frist die Abmachung barrierefreier Bahnhöfe nicht eingehalten hat. Und natürlich war die Finanzierung meiner Assistentinnen ein Kampf, welche meine Behinderung in der Politik egalisiert.

Islam Alijaj unterwegs auf der Strasse mit seinem elektrischen Rollstuhl.

«Behinderung wird noch immer vor allem als Kostenfaktor wahrgenommen. Wir müssen alle Menschen mit Behinderungen dazu befähigen, aktiv Teil der Gesellschaft zu sein, soweit sie das wollen oder können.»

Sie beschreiben in Ihrem Buch, dass Sie als Nationalrat eine Reform des Behindertenwesens anstossen und umsetzen wollen, die von Menschen mit Behinderungen selber und entscheidend ausgearbeitet wird. Gemäss dem Leitgedanken: Nichts über uns ohne uns. Was fordern Sie darin?

Es braucht eine Revolution in der Schweizer Behindertenpolitik. Menschen mit Behinderungen müssen mehr Assistenz erhalten, um einer beruflichen und/oder politischen Tätigkeit nachzukommen. Durch die Assistenz können wir vollumfänglich am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Zudem werden Menschen mit Behinderungen oftmals gezwungen, in Institutionen zu leben. Weil die Politik aktuell lieber Geld in ein zusammenbrechendes System pumpt, als in die Inklusion. Ich möchte, dass alle Menschen das Recht haben ihre Wohnform und ihren Wohnort frei zu wählen. Barrierefrei heisst aber natürlich auch, dass Menschen mit eingeschränkter Mobilität überall Zugang haben. Die Gesetzesgrundlage hierfür haben wir schon, sie muss nur noch umgesetzt werden. Vor 20 Jahren nämlich hat die Schweiz sich bereit erklärt, den öV behindertengerecht zu machen. Bislang ist nicht viel passiert. Ich habe deshalb bereits eine Motion eingereicht, die fordert, dass der öV für Menschen mit Behinderungen gratis ist, bis dieser gesetzwidrige Zustand aufgehoben ist.

Islam Alijaj sitzt als neuer Nationalrat unter vielen Politiker:innen im Schweizer Parlament.

Rund 1,8 Millionen Menschen mit Behinderungen leben in der Schweiz, das sind 22 Prozent der Bevölkerung. Seit über zwanzig Jahren gibt es das Behindertengleichstellungsgesetz und vor bald zehn Jahren hat die Schweiz die UNO-Behindertenrechtskonvention ratifiziert (allerdings ohne das Zusatzprotokoll). In der Politik, bei der Arbeit und in der Öffentlichkeit sind Menschen mit Behinderungen kaum sichtbar. Weshalb ist das so?

Weil man lieber über uns statt mit uns spricht. Mit der ersten Behindertensession, mit der Lancierung der Inklusionsinitiative und mit der Wahl von drei Nationalräten mit Behinderungen, konnten wir ein Zeichen für eine inklusive Gesellschaft setzen. Es hätte zwar bereits früher geschehen sollen, aber besser spät als nie.


«Ich möchte nicht, dass meine Kinder in einer Gesellschaft aufwachsen, die ihren Vater für minderwertig hält. Ich möchte so viel erreicht haben, dass sie mich cool finden, bevor die Welt ihnen etwas anderes zeigt.».

Was Menschen ohne Behinderungen oft vergessen: Keine*r kann wissen, ob es sie*ihn auch einmal trifft. Die Gesellschaft sollten wir also zugunsten aller inklusiver denken. Wie können wir alle etwas zu dieser Vision beitragen?

Indem wir einander zuhören und alle Bevölkerungsgruppen zu Wort kommen lassen. Es ist wichtig, dass man uns Menschen mit Behinderungen ernst nimmt und dass wir selbst über unsere Zukunft entscheiden können, statt den Expert*innen dabei tatenlos zuzusehen.


Exkurs: «Historische Wahl» für Menschen mit Behinderung

Im frisch gewählten Nationalrat politisieren seit Ende 2023 drei Menschen mit Behinderung. Das sind so viele wie noch nie. Zum einen sind das die beiden bisherigen Mitte-Politiker Christian Lohr und Philipp Kutter. Zum anderen Islam Alijaj von der SP, der neu ins Parlament gewählt wurde. Quelle: SRF



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