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«Barrierefreiheit ist keine Selbstverständlichkeit»

In der Schweiz leben gemäss Bundesamt für Statistik rund 1,8 Millionen Menschen mit einer Behinderung. Häufig fehlen jedoch transparente und verlässliche Informationen zur Barrierefreiheit von öffentlichen Gebäuden und Plätzen. Markus Böni von Pro Infirmis erklärt die Hindernisse, welche Menschen im Rollstuhl häufig in ihrem Alltag antreffen und wie ein digitales Projekt hier Abhilfe schafft.



Ein Konzertbesuch, ein Behördengang oder eine Zugreise – für Menschen mit Behinderungen bedarf es dafür einer detaillierten Planung. Wie sind die Zugänge? Hat es einen Lift im Gebäude? Gibt es eine zugängliche WC-Anlage? Ist im Raum genügend Platz für einen Rollstuhl vorhanden? Häufig fehlen transparente und verlässliche Informationen zur Barrierefreiheit von öffentlichen Gebäuden und Plätzen. Diese Informationen sind wichtig, damit Menschen mit einer Behinderung selbstbestimmt an unserem Alltagsleben teilnehmen können.


Mit dem Projekt «digitale Zugänglichkeitsdaten» will Pro Infirmis hier Abhilfe schaffen – in enger Zusammenarbeit mit Städten, Gemeinden und Tourismusorganisationen. Menschen mit und ohne Behinderungen sind als Freiwillige an der Erfassung beteiligt. Neben Kriterien zur Rollstuhlgängigkeit werden auch Informationen für Menschen mit Seh-, Hör- oder kognitiven Beeinträchtigungen erfasst, beispielsweise zur Beschriftung in Blindenschrift oder zu Angeboten in Gebärdensprache oder leichter Sprache. Diese detaillierten Daten inklusive Fotos werden auf den Webseiten aller Partner*innen wie etwa Gemeinden, Städten und Tourismusbüros sowie bei search.ch und auf der Webseite von Pro Infirmis veröffentlicht.


In der Schweiz wurden bislang 9'000 Objekte erfasst und es kommen laufend neue dazu. Diese umfassen neben Hotels, Restaurants und Amtsgebäuden auch Bahnhöfe, Parkhäuser, öffentliche WC-Anlagen, Sportanlagen, Spielplätze, Museen, Kinos, etc. Viele Gemeinden und Städte sind bemüht, die öffentlichen Gebäude barrierefrei zu gestalten und entsprechende Informationen zur Verfügung zu stellen. Sie beteiligen sich mit 40 bis 80 Prozent an den Kosten für die Erfassung, denn jedes Projekt muss eigenständig finanziert sein.



7 Fragen an Markus Böni

Markus Böni ist Leiter der Fachstelle Inklusion bei Pro Infirmis Ostschweiz, ist Präsident des Rollstuhlclubs und selbst auf den Rollstuhl angewiesen. Er ist 53 Jahre alt, gelernter Geoinformatiker und lebt in Romanshorn. 2019 realisierte er einen Traum und reiste in seinem Rollstuhl durch Kanada und Alaska.



Markus, wie ist die Idee für das Projekt «digitale Zugänglichkeitsdaten» entstanden? Die Idee, Zugänge zu Gebäuden und Plätzen zu erfassen, entstand aus diversen Rückmeldungen von betroffenen Personen. Gleichzeitig gab es bis 2015 Erfassungen zum Thema hindernisfreier Zugang nur für einzelne Kategorien, z.B. für Rollstuhlparkplätze oder Hotels und dies teilweise nur für einzelne isolierte Regionen. Pro Infirmis entwickelte daraus in Zusammenarbeit mit anderen Fachverbänden die Applikation «ZUERST» für die Erfassung und Publikation von digitalen Zugänglichkeitsdaten, welche wir heute noch verwenden.

Du bist selbst auf einen Rollstuhl angewiesen. Welches sind die häufigsten Hindernisse, welche du im Alltag antriffst?

Bei einem auswärtigen Nachtessen an einem für mich unbekannten Ort muss ich einige Vorabklärungen treffen: Reise ich mit dem ÖV, gilt es für mich sicherzustellen, dass der Bahnhof und die Verkehrsmittel hindernisfrei sind. Bei Postautos wie auch gewissen Zügen und Trams ist das noch immer nicht der Fall. Mit dem Auto stellt sich für mich die Frage, wo es einen Rollstuhlparkplatz in der Nähe gibt. Auch beim Restaurant kläre ich vorgängig mit einem Anruf ab, dass der Zugang ebenerdig ist und es eine rollstuhlgängige Toilette gibt.

Spontane selbständige Aktivitäten waren und sind auch heute noch ohne grössere Vorabklärungen nicht möglich. Mit dem Projekt «Digitale Zugänglichkeitsdaten» stellen wir Menschen mit Behinderungen die Informationen bereit, damit sie die Zugänge vor Ort im Voraus kennen und sich entsprechend vorbereiten können.


Wo stehen wir heute in der Schweiz deiner Einschätzung zufolge bezüglich Barrierefreiheit? Meines Erachtens sind wir auf dem Weg, aber noch nicht am Ziel. Mit der UNO-Behindertenrechtskonvention und dem Behindertengleichstellungsgesetz sowie den technischen Normen hätten wir eigentlich alle Werkzeuge für die Umsetzung einer hindernisfreien Umwelt. Die Verantwortung für die Umsetzung und die Anwendung dieser eidgenössischen Vorgaben liegt bei der öffentlichen Hand und bei den Anbieter*innen, die Grunddienstleistungen für die öffentliche Hand erbringen. Es liegt in ihrer Pflicht, dass Bauten, Zugänge zu Verkehrsmitteln oder zu Plätzen hindernisfrei sind.

Der bauliche Teil stellt einen wichtigen Teil dar, es gibt aber noch viele weitere Themen, die für eine barrierefreie Gesellschaft wichtig sind. Dazu gehören die Bereiche Schule/Ausbildung, Arbeit, Wohnen, Freizeitangebote, politische Teilhabe, Zugang zu Informationen, und viele mehr.


«Menschen mit einer Behinderung sollen am gesellschaftlichen Alltag partizipieren können. Sei es in der Schule und der Ausbildung, bei der Arbeit, bei der Wahl der Wohnform sowie in der Freizeit.»

Wo liegen aktuell die grössten Herausforderungen, um das Thema weiter voranzutreiben? Noch immer ist es keine Selbstverständlichkeit, dass eine barrierefreie Umwelt von den Verantwortlichen angestrebt wird. Nach wie vor müssen Menschen mit einer Behinderung sich für ihre zustehenden Rechte rechtfertigen und werden zu «Bittsteller*innen» gemacht.

In der UNO-Behindertenrechtskonvention wurden die Grundvoraussetzungen für eine inklusive und diverse Gesellschaft geschaffen, nun müssen wir diese konsequent anwenden und in unserer Gesellschaft integrieren.

Welche Wirkung erzielt die Erfassung von digitalen Zugänglichkeitsdaten bei Städten, Gemeinden und Gebäudeinhaber*innen?

Ein zentrales Thema ist die Sensibilisierung. Vielfach komme ich nicht mal ins Amtsgebäude, wenn ich das Projekt bei Städten und Gemeinden vorstelle. Bei den Erfassungen vor Ort, die aus Teams von Personen mit und ohne Behinderung bestehen, findet ebenfalls eine Sensibilisierung statt. Auch im Kontakt mit den Gebäudeinhaber*innen gibt es einen Austausch zum Thema. Diese Berührungspunkte mit Entscheidungsträger*innen sind wichtig, um auf unsere Arbeit aufmerksam zu machen.

Welche Ziele habt ihr euch mit dem Projekt für die kommenden Jahre gesteckt?

Unser Ziel ist es, so weit wie möglich ein flächendeckendes Netz an Informationen zur Zugänglichkeit zu erfassen und zu unterhalten. Wir von den Pro Infirmis können die Städte und Gemeinden in der Umsetzung unterstützen und beraten. Die erhobenen Daten werden dann auf den verschiedensten öffentlichen Plattformen und Karten publiziert und sind so für alle zugänglich.


Wie können wir alle im Alltag zu einer inklusiveren Gesellschaft beitragen? Inklusion bedeutet für mich Zugehörigkeit. Menschen mit einer Behinderung sollen am gesellschaftlichen Alltag partizipieren können – sei es in der Schule und der Ausbildung, bei der Arbeit, bei der Wahl der Wohnform sowie in der Freizeit. Wir müssen von der defizitären Betrachtungsweise hin zum Erkennen der Stärken jedes einzelnen Menschen kommen. Mit dieser neuen Sichtweise können wir die Gesellschaft diverser und stärker machen.

 


Pro Infirmis setzt sich dafür ein, dass Menschen mit Behinderungen ihr Leben selbstständig und selbstbestimmt führen und aktiv am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. Die Organisation führt in der ganzen Schweiz Beratungsstellen und unterstützt Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörigen.

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