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«Wir müssen den Menschen ins Zentrum stellen.»

Aktualisiert: 19. Aug.

Bert Evers unterstützt Menschen bei der Wiedereingliederung in den ersten Arbeitsmarkt. Wie sieht dieser Prozess in der Praxis genau aus? Welche Hürden gibt es? Und wie gross stehen die Erfolgsaussichten für eine Integration?


Porträt von Bert Evers vor einer Naturkulisse

Bert Evers ist seit März 2023 als Case Manager und Job Scout beim Werk- und Technologiezentrum Linthgebiet (WTL) tätig. Zudem ist er Vorstandsmitglied bei der Arbeitsintegration Zürich (AIZH) und Koordinator für die Interessensgemeinschaft Job-Coaching Zürich.


Bert, wie sieht dein Arbeitsalltag beim WTL ganz konkret aus? Ich arbeite als Case Manager und Job Scout. Das heisst ich betreue auf der einen Seite Betroffene und suche auf der anderen Seite aktiv nach Berufsmöglichkeiten für sie. In meiner Arbeit habe ich mit Menschen zu tun, die schon lange oder immer wieder arbeitslos sind. Wir reden in der beruflichen Eingliederung von sogenannten «Teilnehmenden». Bei uns im WTL arbeiten rund 80-90 Teilnehmende, welche bei den IV-Stellen der Kantone Glarus, Schwyz, St. Gallen und Zürich angemeldet sind. Das sind oft Menschen, die aufgrund von gesundheitlichen Beeinträcht­igungen oder Suchtproblemen in einer IV-Anmeldung gelandet sind. Daneben begleiten wir auch etwa 90 Teilnehmende, welche über die Sozial- oder Migrationsämter zu uns gekommen sind. Beim WTL haben diese Teilnehmenden die Möglichkeit, im sogenannten zweiten Arbeitsmarkt zu arbeiten und in eine geregelte Tagesstruktur eingebunden zu sein.


Bert Evers steht an einem Stehtisch und unterhält sich mit Arbeitskollegen

Wie genau unterscheidet sich der erste und zweite Arbeitsmarkt?

Beim WTL sind wir im zweiten Arbeitsmarkt tätig. Wir bieten den Teilnehmenden zum Beispiel einfache administrative Aufgaben an, bei denen es keinen Zeit- oder Leistungsdruck gibt. Die Teilnehmenden sind zeitlich flexibel und können weitgehend selbst bestimmen, an welchen Tagen und Zeiten sie bei uns tätig sind. Sie haben die Möglichkeit, in 14 verschiedenen Abteilungen zu arbeiten und eine Arbeit zu finden, die ihnen liegt. Dazu gehören beispielsweise die Bereiche Gastronomie, Verkauf, Gartenarbeit, Mediadesign/Grafik, Logistik, Montage oder Hauswirtschaft. Sie werden dabei agogisch begleitet. Wir haben auch eigene Werkstätten, in denen wir externe Aufträge von Unternehmen entgegennehmen und beispielsweise Bienenhäuser zusammenbauen. Unser Ziel ist die berufliche und soziale Integration, also die Menschen in den ersten Arbeitsmarkt zu bringen. Dort wird der Fokus auf Leistung gelegt und gleichzeitig wird die Person in ein Team eingebunden, womit die Arbeitnehmenden stärker äusseren Erwartungen und zeitlichen Bedingungen ausgesetzt sind als bei uns im zweiten Arbeitsmarkt.


«Beim WTL sind wir im zweiten Arbeitsmarkt tätig. Wir bieten den Teilnehmenden die Möglichkeit, zeitlich flexibel und weitgehend selbst bestimmt zu wählen, an welchen Tagen und Zeiten sie bei uns tätig sind.»

Wie sieht ein solcher Prozess für die Wiedereingliederung der Teilnehmenden aus?

Lass uns dies an einem konkreten Beispiel durchspielen: Eine Teilnehmende startet bei uns mit einem individuell angepassten Aufbautraining. Sie arbeitet anfänglich beispielsweise zwei Mal wöchentlich bis zu zwei Stunden in einer Abteilung mit einem ruhigen Umfeld. Das Aufbautraining geht in der Regel sechs Monate und hat das Ziel, das Arbeitspensum der Teilnehmerin zu steigern. Erreicht sie innerhalb dieser Zeit ein Arbeitspensum von 50 Prozent, kann sie in ein sogenanntes Arbeitstraining starten. In dieser Phase unterstützen wir die Teilnehmerin dabei, ihr Bewerbungs­dossier zusammenzustellen. Sie kann an Workshops zum Schreiben eines Lebenslaufs, zur Jobsuche oder zur Vorbereitung eines Bewerbungsgesprächs teilnehmen. Als Case Manager erstelle ich mit ihr zusammen ein Jobprofil, welches an den Job Scout weitergegeben wird. Basierend darauf werden Unternehmen gesucht, die bereit sind, sie für einen Schnupper-Einsatz aufzunehmen. In der IV-Terminologie nennen wir dies einen externen Einsatz. Es geht dabei in erster Linie darum, dass sie erste Erfahrungen im ersten Arbeitsmarkt sammeln und sich noch in einem kleinen Pensum an dieses Leistungsumfeld angewöhnen kann. Auch Unternehmen lernen dabei, wie sie mit solchen Menschen umgehen. Ist ein*e Arbeitgeber*in bereit, der Teilnehmerin eine Chance zu geben, geht es weiter mit einem Arbeitsversuch und arbeitet die Teilnehmerin während maximum sechs Monaten in einem 50-80 Prozent Pensum im Unternehmen.


Was bedeutet dies auf der anderen Seite für die Arbeitgeber*innen?

Ein*e Arbeitgeber*in muss bis zum Ende eines externen Arbeitsversuchs keinen Lohn auszahlen, da die betreffende Person mit Taggeldern der IV unterstützt wird. Der gesamte Prozess vom Aufbautraining bis zum Ende des Arbeitsversuchs dauert in der Regel 18 Monate. Gibt es nach dem Arbeitsversuch eine beidseitige Passung, ist es möglich, dass die Person eine Festanstellung erhält. Jedoch ist ein*e Arbeitgeber*in nicht verpflichtet, sie zu übernehmen.

Ein Problem ist, dass immer weniger Unternehmen bereit sind, Menschen aus dem zweiten Arbeitsmarkt eine Chance zu geben. Der Zeit- und Kostendruck nimmt zu. Obschon wir den Teilnehmenden während einem externen Einsatz und dem Arbeitsversuch weiterhin eine Betreuung von unserer Seite bieten, braucht es seitens der Unternehmen ebenfalls eine umsichtige, fachliche Begleitung.


«Unser Ziel ist die berufliche und soziale Integration, also die Menschen in den ersten Arbeitsmarkt zu bringen.»

Wie gross sind die Erfolgsaussichten für eine Wiedereingliederung?

Unsere Vermittlungsquote liegt aktuell bei 25 Prozent, Tendenz steigend seit Oktober 2023. Das ist schon sehr hoch! Allerdings kann nur ein Teil der von uns vermittelten Teilnehmenden langfristig im Job bleiben. Wir haben eine riesige Freude, wenn wir von Unternehmen oder den Teilnehmenden selbst hören, dass sie nach einem Jahr immer noch in der vermittelten Arbeit tätig sind.


Was passiert mit Teilnehmenden, welche nach dem Arbeitstraining keine Möglichkeit im ersten Arbeitsmarkt finden?

Nach sechs Monaten können wir das Arbeitstraining nicht mehr verlängern. Wir müssten ein Unternehmen finden, welches einen Arbeitsversuch für die Teilnehmenden anbietet, andernfalls kann das Angebot nicht fortgeführt werden. In diesem Fall fällt die Person aus dem von der IV finanzierten Programm. In solchen Fällen bin ich jeweils im Austausch mit den IV-Berater*innen, um zu eruieren, was noch möglich ist.

Diese Situation ist oft schwierig: Bei uns sind die Teilnehmende eingebunden in Beratungen und in die Unterstützung durch externe Psycholog*innen und Therapeut*innen. Wenn sie ihr geschütztes Umfeld bei uns verlassen müssen und noch nicht bereit sind für diesen Schritt, sind die Personen oft völlig auf sich alleine gestellt. Es fehlt ihnen das nötige soziale Umfeld und oft auch auch der Mut, weiterhin begleitende Therapien aufzusuchen. In diesem Fall müssen sie sich beim RAV melden und werden in normalen Bewerbungsprozessen eingebunden. Damit tun sich viele schwer. Zudem hatten Personen, die in einer IV-Massnahme landen, oft bereits zuvor schwerwiegende finanzielle Schwierigkeiten. Die Personen sind weiterhin abhängig von Taggeldern oder Renten und benötigen teilweise zusätzliche Ergänzungsleistungen, um das Existenzminimum zu erreichen.


Was ist dein Antrieb für diese Tätigkeit?

Mein Ziel ist es immer, die Teilnehmenden nachhaltig im ersten Arbeitsmarkt platzieren zu können. Wir müssen immer den Menschen ins Zentrum stellen. Dabei sehe ich die Organisationen im Feld nicht als Konkurrenz, sondern wir verfolgen einen gemeinsamen Auftrag. Zudem werde ich bald 62 Jahre alt und möchte vieles von dem, was ich in meinem Arbeitsleben gelernt und gemacht habe, an andere weitergeben. Es macht mir enorm Freude, anderen etwas von meinen Fähigkeiten mitgeben zu können. Ich bin ein Netzwerker und gerne mit anderen Menschen in Kontakt.


 

Werk- und Technologiezentrum Linthgebiet (WTL)

Das WTL ist ein sozialwirtschaftliches Unternehmen in Jona (SG) und bietet stellensuchenden Menschen Unterstützung bei der Integration in den ersten Arbeitsmarkt. Die Gemeinden im Linthgebiet bilden die Trägerschaft. Die zuweisenden Stellen sind Sozialbehörden (Sozialämter) von Gemeinden und die Invaliditätsversicherung.

Weitere Infos: https://wtl.ch/

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