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«Wir benötigen einen Perspektivenwechsel unter den Generationen»

Till Grünewald leitet das Berner Generationenhaus. Er ist 45 Jahre alt, lebt mit seiner Familie in Bern und hat die Institution mitaufgebaut. Das Generationenhaus ist ein öffentliches Begegnungs- und Kulturzentrum und will den Dialog, die Beziehungen und die Solidarität zwischen den Generationen fördern. Im Interview ordnet Till Grünewald die Ergebnisse des kürzlich erschienen Generationenbarometers 2023 ein.



Till, wie stehst du zum «klassischen» Begriff der Generationen? In welchem Kontext ist diese Abgrenzung sinnvoll, wo eher hindernd? Einerseits wird der gesellschaftliche Generationenbegriff medial sehr oft verwendet, was den Diskurs rund um Generationen und Generationenfragen stark prägt. Auf der anderen Seite wird der Sinn des Generationen-Ansatzes wissenschaftlich immer wieder in Frage gestellt mangels Evidenz, dass sich Alterskohorten in ihren Einstellungen tatsächlich unterscheiden. Als Generationenhaus haben wir einen differenzierten Blick darauf: die Kategorisierung in Generationen ermöglicht es uns als Gesellschaft überhaupt erst, einen Diskurs über Generationenfragen zu führen. Gleichzeitig ist jeder Mensch individuell und hat ganz eigene Vorstellungen, Erfahrungen sowie Ansichten. Deswegen sind die Ausführungen zu den Generationen mit Einschränkungen zu verstehen. Das heisst: Zwei Angehörige derselben Gruppe können vollkommen unterschiedlich sein – und sind es vermutlich auch.


Wo liegen aktuell die grössten Herausforderungen zwischen den Generationen?

Es gibt keinen grundsätzlichen Graben, hingegen viele potenzielle Bruchlinien zwischen den Generationen. Aktuell beschäftigt uns sicher die steigende Hoffnungslosigkeit und Lebensunzufriedenheit der Jungen, welche die Balance zwischen den Generationen insgesamt gefährdet sehen. Auffällig ist, dass sich die älteren Generationen der Situation der Jungen nicht bewusst zu sein scheinen. Zudem haben unterschiedliche Generationen in vielen Fällen unterschiedliche Sichtweisen auf Themen, die zu Konflikten führen können, jedoch auch Basis für einen spannenden Wissenstransfer sind.


«Wir benötigen einen Perspektivenwechsel unter den Generationen. Auf dieser Basis können wir das Verständnis fördern und voneinander lernen.»

Du sprichst es an: Im Generationenbarometer wird sichtbar, dass junge Erwachsene einen Graben zwischen den Generationen wahrnehmen und eher pessimistisch in die Zukunft blicken. War das zu erwarten und wie gehen wir damit um?

Dass 57% der 18-25-Jährigen einen Graben zwischen den Generationen empfinden, ist neu und für uns eher unerwartet. Dahingegen war die Zunahme des Pessimismus eher absehbar, da wir aktuell eine Phase multipler Krisen erleben. Und auch ohne temporäre Krisen stellt der Klimawandel längerfristig eine grosse Herausforderung dar, auf die wir als Gesellschaft bisher nur ungenügend reagieren konnten. Für komplexe Herausforderungen gibt es leider selten einfache Lösungen. Es braucht im Gegenteil vielfältige Lösungsansätze. Am wichtigsten erscheint mir, zuerst zu verstehen, warum die Jungen die Generationenbalance gefährdet sehen und was die Ursachen für ihren Pessimismus sind. Für die älteren Generationen heisst das: Zuhören, Empathie gewinnen für die Situation der Jungen und ihre Ängste und Sorgen ernst nehmen. Damit das gelingt, braucht es einen anhaltenden Dialog zwischen den Generationen: In der Politik, in den Medien, an öffentlichen Orten wie dem Berner Generationenhaus und in den eigenen vier Wänden.


Auch in punkto Lebenszufriedenheit gibt es grosse Unterschiede zwischen jüngeren und älteren Generationen. Wie können wir diesem Ungleichgewicht zwischen den Generationen entgegenwirken?

Die tiefe Lebenszufriedenheit der Jungen spiegelt sich auch im Vergleich der eigenen Lebensqualität mit jener der eigenen Eltern. Wer in den späten 1980ern oder danach geboren wurde, geht nicht mehr davon aus, dass die eigene Lebensqualität höher ist als jene der Eltern. Gleichzeitig schätzen sie die Lebensqualität zukünftiger Generationen (z.B. jene der eigenen Kinder) tiefer ein als die eigene. Sie glauben nicht mehr an das alte Generationenversprechen, gemäss dem jede neue Generation etwas bessere Lebensbedingungen haben sollte. Den älteren Generationen scheinen die tiefe Lebenszufriedenheit und die fehlenden Zukunftsaussichten der jüngeren Generation nicht wirklich bewusst zu sein. Zudem ist es wahrscheinlich, dass sie die Lebensqualität anhand anderer Kriterien beurteilen. So gehen ältere Personen wohl vermehrt davon aus, dass jüngere Generationen glücklicher sind, da sie Zugang zu mehr materiellem Komfort haben. Jüngere Generationen scheinen jedoch andere Dinge wie etwa gute Beziehungen und persönliche Entfaltung als wichtig zu erachten.

Um dem Ungleichgewicht entgegenzuwirken, benötigen wir in einem ersten Schritt einen Perspektivenwechsel unter den Generationen. Auf dieser Basis können wir das Verständnis fördern und voneinander lernen.

«Für gelingende Generationenbeziehungen braucht es einen anhaltenden Dialog zwischen den Generationen: In der Politik, in den Medien, an öffentlichen Orten und in den eigenen vier Wänden.»

Unzufriedenheit bringt auch eine Kraft für Veränderung mit sich. Bei der Klimajugend ist dies deutlich sichtbar. Wie kann dieses Momentum genutzt werden?

Positiv ist, dass die Jungen zwar am pessimistischen und unzufriedensten sind, gleichzeitig aber am meisten Handlungsspielraum für die Zukunft sehen. Ein knappes Drittel der 18- bis 25-Jährigen glaubt, selbst einen Einfluss auf die Gestaltung der Zukunft unserer Gesellschaft zu haben. Und gerade der Kampf gegen den Klimawandel ist ein gutes Beispiel dafür, dass Jung und Alt – in diesem Fall Klimajugend und Klimaseniorinnen – sich gemeinsam und generationenübergreifend engagieren.


Die Lebensrealitäten von Jüngeren und Älteren unterscheiden sich sehr stark. Worin liegt der aus deiner Sicht der Gewinn im Generationenaustausch? Die Individualisierung ist ein sozialer Megatrend. Gleichzeitig glauben 77% der befragten Menschen, dass die Empathie und damit die Fähigkeit, sich in andere einzufühlen, insgesamt abnimmt. Hier kann der Austausch zwischen den Generationen entgegenwirken.

Konkrete Ergebnisse zum Gewinn im Miteinander der Generationen kennen wir etwa aus der Arbeitswelt: Gemäss einer Studie der HSLU sagt man, «die Jungen sind lernfähiger und innovativer als die Älteren, wogegen diese breiteren Netzwerke geknüpft haben und in schwierigen Situationen resilienter sind». Durch gezieltes Generationenmanagement und diverse Teams können die Kompetenzen aller Mitarbeitenden genutzt werden.


«Wir können gesellschaftliche Herausforderungen nur im Dialog zwischen den Generationen lösen. Dies kann uns motivieren, selbst aktiv zu werden und einen Beitrag zu leisten.»

Welche Ansätze verfolgt ihr im Berner Generationenhaus?

Im Berner Generationenhaus verfolgen wir den Ansatz, dass wir die Beziehungen mit einem vielfältigen Angebot fördern wollen, indem wir z.B. Themen wie die alternde Gesellschaft, Generationengerechtigkeit oder Empathie mit einem vielfältigen Programm zugänglich machen und verhandeln. Gleichzeitig versuchen wir auch Räume zu schaffen, die für viele Generationen und unterschiedliche Menschen Platz bieten, sich zu treffen und auszutauschen. Unsere Cafébar und der Sommer im Innenhof sind gewissermassen auch Labor für Begegnung und Dialog zwischen den Generationen.


Du plädierst für einen anhaltenden Dialog zwischen den Generationen in der Politik, in den Medien, an öffentlichen Orten und in den eigenen vier Wänden. Wer ist hier besonders gefordert? Politik, Medien sowie öffentliche Orte und Netzwerke sind wichtig, wie auch die eigenen vier Wände. Letztendlich ist entscheidend, dass wir als Individuen einen Beitrag leisten können, egal ob in der eigenen Familie, im Beruf oder in einem öffentlichen Amt. Wie Francois Höpflinger einmal gesagt hat: «Wir alle werden in Generationenbeziehungen geboren, egal ob wir es wollen, und sie prägen unser Leben in einem hohem Mass». Gleichzeitig können wir gesellschaftliche Herausforderungen nur im Dialog zwischen den Generationen lösen. Dies kann uns motivieren, selbst aktiv zu werden und einen Beitrag zu leisten.


Der Generationenbarometer 2023

Am 1. Februar 2023 ist der dritte Generationenbarometer erschienen – eine repräsentative Studie, welche vom Forschungsinstitut sotomo im Auftrag des Berner Generationenhauses durchgeführt wird. Sie geht den Fragen nach: Was bewegt die Generationen und was belastet sie? Wie wird der Zusammenhalt zwischen den Generationen wahrgenommen?


Das sind die Haupterkenntnisse:

  • Ein tiefgreifender Graben zwischen den Generationen wird auch im aktuellen Generationen-Barometer nicht festgestellt. Anders sehen dies allerdings die 18- bis 25-Jährigen: Bei den jüngsten Befragten nehmen mehr als die Hälfte (57%) einen Generationengraben wahr.

  • Zudem sehen die unter 35-Jährigen die Zukunft besonders trüb und fühlen sich nicht ausreichend verstanden oder wahrgenommen.

  • Bei der Lebenszufriedenheit gibt es grosse Unterschiede zwischen Jung und Alt: Während insgesamt die Lebenszufriedenheit der Befragten in den letzten Jahren leicht gestiegen ist, ist der Anteil an sehr zufriedenen jungen Menschen unter 36 seit 2020 kontinuierlich gesunken und befindet sich auf einem Tiefstand. Nur noch jede fünfte Person unter 36 gibt heute an, sehr zufrieden zu sein – 2020 war es noch knapp ein Drittel. Bei Befragten über 55 ist dagegen fast die Hälfte (47%) sehr zufrieden mit dem eigenen Leben.

 




Das Berner Generationenhaus ist ein öffentlicher Ort der Begegnung und des gesellschaftlichen Dialogs. Es vereint 13 soziale Institutionen unter einem Dach und bietet Information, Beratung, Bildung und Lebenshilfe für alle Generationen. Die Institution wurde 2014 eröffnet und ist seit 2019 eine Institution der Burgergemeinde Bern. Das Berner Generationenhaus bietet ein regelmässiges Veranstaltungs- und Projektangebot an. Aktuell läuft die Ausstellung «A Mile in My Shoes», welche sich dem Thema Empathie widmet und zu einem Perspektivenwechsel einlädt.


Fotocredits: Anita Affentranger (Porträtbild), Adrian Götschi (Bild 1), Andy Hochstrasser (Bild 2+3), zvg von Berner Generationenhaus

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