Armut ist in der Schweiz oft verborgen. Doch jede 12. Person in der Schweiz ist arm und jede sechste Person gilt als armutsgefährdet – darunter viele Alleinerziehende und Familien. Armut ist also kein Randphänomen, sondern eine grosse gesellschaftliche Herausforderung.
Zahlen zur Armut
In der Schweiz sind 722’000 Menschen oder 8,5 Prozent der Bevölkerung von Armut betroffen – das ist jede 12. Person (Bundesamt für Statistik, 2020). Beinahe doppelt so viele – rund 1,3 Millionen Menschen oder 15,5 Prozent der Schweizer Bevölkerung – gelten als armutsgefährdet, haben also ein deutlich tieferes Einkommen als die Gesamtbevölkerung (weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens). Das ist jede sechste Person. Die Armutsgrenze liegt bei durchschnittlich 2’279 Franken im Monat für eine Einzelperson und 3’963 Franken für zwei Erwachsene mit zwei Kindern. Sie wird von den Richtlinien der Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) abgeleitet.
Die Armut in der Schweiz nimmt seit 2014 zu (damals 6,7 Prozent). Besonders häufig betroffen sind Alleinerziehende und Familien mit vielen Kindern, Erwerbslose und Personen mit tiefem Bildungsniveau. Das Perfide: Jede zweite Person, die von Armut betroffen ist, hat einen Job (4,2 Prozent) und erzielt dennoch kein Einkommen über der Armutsgrenze. Dies sind rund 158’000 Personen, welche zur Gruppe der «Working Poor» gehören. Gemäss Bund sind in der Schweiz schätzungsweise 2’200 Menschen von Obdachlosigkeit betroffen und etwa 8’000 von Wohnungsverlust bedroht. Doch die Anzahl Personen, die ihre Wohnung verlieren und ohne festen Wohnsitz leben müssen, steigt. Mögliche Gründe dafür sind der Verlust der Arbeitsstelle, familiäre Brüche, psychische Beeinträchtigungen oder Suchtprobleme. Städtische und private Notunterkünfte sowie Frauenhäuser nehmen Obdachlose vorübergehend auf.
(Quellen: 1-7)
Leben an der Einkommensgrenze
Armut wird soziokulturell definiert. In der Schweiz gilt als arm, wer «seinen täglichen Bedarf nicht decken und an der Gesellschaft nicht teilhaben kann. Zusätzlich zur finanziellen Lage werden also auch andere zentrale Lebensbereiche wie Arbeit, Bildung, Wohnen, Gesundheit, soziale Kontakte und Freizeit berücksichtigt.» (5) Das bedeutet beispielsweise, dass der Lohn nicht ausreicht für die Bezahlung der Krankenkassenprämien, einen angemessenen Wohnraum oder einen unvorhergesehenen Arztbesuch. Eine Konsequenz davon können gesundheitliche Einschränkungen, mangelnde Sozialkontakte, Spannungen in der Partnerschaft oder Familie, kein fester Arbeitsplatz, Perspektivenlosigkeit und Rückzug aus der Gesellschaft sein.
In der Realität zeigt sich, dass die Armutsgrenze niedrig angesetzt ist und dass ein Einkommen knapp über dieser Schwelle oftmals nicht ausreicht, um die Lebenshaltungskosten zu decken. Im Auftrag von Caritas Schweiz haben Forschende der Berner Fachhochschule am Beispiel des Kantons Bern untersucht, wie viele Haushalte sich knapp über der Armutsgrenze und in einer finanziell schwierigen Lebenslage befinden. Die Resultate zeigen, dass viele Haushalte sich genau in diesem kritischen Einkommensbereich befinden:
Wird die Armutsgrenze gegenüber heute um 100 Franken angehoben, gelten im Kanton Bern rund 7’000 Menschen zusätzlich als arm. Es sind häufig Familien, die in einer finanziell schwierigen Situation knapp über der Armutsgrenze leben.
Wird die Armutsgrenze um 500 Franken pro Monat erhöht, gelten mehr als 45'000 zusätzliche Personen im Kanton Bern als Armutsbetroffene – das sind fast doppelt so viele wie heute (14,4 Prozent ggü. 7,7 Prozent heute).
(Quellen: 4,5,7,8)
Corona-Auswirkungen folgen noch
Die letztmals vom Bundesamt für Statistik für das Jahr 2020 veröffentlichten Armutszahlen basieren auf den Einkommensdaten von 2019. Die sozialen Auswirkungen der Pandemie sind darin also noch gar nicht ersichtlich. Erste Auswertungen zeigen: «11,3 Prozent der Bevölkerung gaben an, aufgrund der Pandemie mit Einkommenseinbussen konfrontiert zu sein; insbesondere jene, die schon vor der Krise benachteiligt waren.» (3) Die Lebenssituation hat sich insbesondere für Personen und Familien verschärft, welche sich zuvor selbständig, ohne Anspruch auf Sozialleistungen durchgeschlagen haben. Erwerbstätige im unteren Einkommensbereich waren durch die Einschränkungen zur Eindämmung der Pandemie zudem stärker eingeschränkt, weniger im Home-Office tätig und häufiger in Kurzarbeit. Das Gesamtbild wird sich erst bei der nächsten Erhebung zeigen. (Quellen: 3,9,10)
Ausblick – oder ist eine Schweiz ohne Armut möglich?
Fast die Hälfte der Schweizer Kantone führt heute ein Armutsmonitoring durch. Gleichzeitig befindet sich auf nationaler Ebene ein umfassendes Armutsmonitoring im Aufbau. Dieses soll die Lage der Bevölkerung untersuchen, Risikogruppen identifizieren und beschreiben, mit welchen Strategien Armut bekämpft wird und was über deren Wirksamkeit bekannt ist. Die Veröffentlichung des ersten nationalen Monitoringberichts ist für Ende 2025 geplant.
Im Grundlagenpapier «Eine Schweiz ohne Armut ist möglich» hat Caritas im Dezember 2021 dargelegt, wie die Armut aus ihrer Sicht überwunden werden kann. Es benötige existenzsichernde Löhne und soziale Sicherheit sowie ein garantiertes Existenzminimum auf dem Niveau der Ergänzungsleistungen für alle Menschen in der Schweiz. Ebenso brauche es gleiche Bildungschancen für alle, genügend bezahlbaren Wohnraum, tiefere Krankenkassenprämien und ein bezahlbares Angebot an qualitativ guter familienergänzender Kinderbetreuung. (Quellen: 11,12)
Quellen:
Bundesamt für Statistik: «Freiwilliges Engagement in der Schweiz 2020», Bern, URL: https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/wirtschaftliche-soziale-situation-bevoelkerung/soziale-situation-wohlbefinden-und-armut/armut-und-materielle-entbehrungen/armut.html
Bundesamt für Statistik: «Armutsgefährdung», Bern, URL: https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/wirtschaftliche-soziale-situation-bevoelkerung/soziale-situation-wohlbefinden-und-armut/armut-und-materielle-entbehrungen/armutsgefaehrdung.html
Bundesamt für Statistik, Medienmitteilung: «Lebensbedingungen in der Schweiz unter den besten in Europa», Bern, 17.2.2022, URL: https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/wirtschaftliche-soziale-situation-bevoelkerung/soziale-situation-wohlbefinden-und-armut/armut-und-materielle-entbehrungen/armut.assetdetail.20884334.html
Hümbelin, Oliver; Lehmann, Olivier Tim: Schätzung der Zahl der Menschen in finanziell schwierigen Lebenslagen knapp oberhalb der Armutsgrenze, Bern: Berner Fachhochschule, 2020, URL: https://arbor.bfh.ch/16890/8/Sch%C3%A4tzung%20der%20Zahl%20der%20Menschen%20in%20finanziell%20schwierigen%20Lebenslagen_02.06.2022.pdf
Caritas: «Armut von A-Z», URL: https://www.caritas.ch/de/was-wir-sagen/zahlen-und-fakten/armut-in-der-schweiz/armut-von-a-z.html
Bundesamt für Wohnungswesen: «Studie zur Obdachlosigkeit in der Schweiz», Bern, 10.02.2022, URL: https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-87122.html
Caritas: «Armut verhindern», URL: https://www.caritas.ch/de/was-wir-sagen/zahlen-und-fakten/armut-in-der-schweiz/armut-verhindern.html
Masé, Aline Masé: «Wenn das Geld zum Leben fehlt», Caritas Medienblog, 19.05.2022, URL: https://www.caritas.ch/de/was-wir-sagen/medien/mediendienst/mediendienst/blog/wenn-das-geld-zum-leben-fehlt.html
Masé Aline: «Wo eine wirksame Armutspolitik ansetzen muss – Eine Schweiz ohne Armut ist möglich», Positionspapier Caritas, 2021, URL: https://www.caritas.ch/fileadmin/user_upload/Caritas_Schweiz/data/site/was-wir-sagen/unsere-position/positionspapiere/2021/positionspapier_schweiz_ohne_armut_de.pdf
Beyeler Michelle; Hümbelin, Oliver; Korell, Ilona; Richard, Tina; Schuwey, Claudia: «Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Armut und sozioökonomische Ungleichheit –Bestandsaufnahme und Synthese der Forschungstätigkeit im Auftrag der Nationalen Plattform gegen Armut», Schlussbericht, 02.11.2021, URL: https://www.gegenarmut.ch/fileadmin/kundendaten/im_Fokus/Auswirkungen_der_Corona-Pandemie_auf_Armut_Nov._21.pdf
Morisod, Vérène: «Neue Formen von Armut besser verstehen», Caritas Medienblog, 23.06.2022, URL: https://www.caritas.ch/de/was-wir-sagen/medien/mediendienst/mediendienst/blog/neue-formen-von-armut-besser-verstehen.html
Caritas: «Armut in der Schweiz bleibt hoch», 17.02.2022, URL: https://www.caritas.ch/de/news/armut-in-der-schweiz-bleibt-hoch.html
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